Totgeburt – ohne Baby zurück an den Arbeitsplatz!?
Die Herausforderungen im Berufsalltag für eine verwaiste Mutter und für ihr Umfeld
Die Vorfreude von Anna und Christoph auf ihr erstes Kind waren groß, als sie mit Wehen zwei Tage nach dem errechneten Geburtstermin zur Entbindung ins Krankenhaus fuhren. Ihre Tochter – Johanna – starb jedoch während der Geburt. Auch 1,5 Jahre nach dem Tod ihrer Tochter kommt es noch vor, dass Arbeitskontakte sie unwissend nach ihrer Tochter fragen. – „Danke der Nachfrage. Sie hat die Geburt jedoch nicht überlebt.“ Schweigen im Walde.
Wann geht Frau, aber auch Mann, nach einer Totgeburt wieder arbeiten? Wie reagieren Kolleginnen und Kollegen und Vorgesetzte richtig? Warum ist Mitleid unerträglich und wie kann das Arbeitsumfeld helfen? Ich habe mich lange mit Anna unterhalten.
Der Anfang war das Ende
Auch der Notkaiserschnitt konnte Johanna nicht retten. Die Betäubungs- und Schmerzmittel, die Anna während der Geburt bekommen hat, knockten sie die ersten Tage regelrecht aus. Als sie das erste Mal das Bewusstsein kurz wiedererlangte sah sie in das unendlich traurige und hilflose Gesicht von Christoph, der ihr mitteilte, dass Johanna es nicht geschafft hat. Auch Annas Leben stand zunächst auf dem Spiel. Sie hat die Geburt jedoch überlebt und fühlt sich seitdem als verwaiste Mutter.
Wenn alle auf die Nachricht der glücklichen Geburt warten …
Die Rechtsfachwirtin Anna arbeitete schon 2016 in der Personalabteilung einer Gewerkschaft. Das Verhältnis mit ihren Kolleginnen war so gut, dass sie noch kurz vor der Geburt aus dem Kreissaal heraus über WhatsApp im Kontakt miteinander standen.
Dann kam nichts mehr. Nach zwei Tagen erreichten sie die ersten erneuten Nachfragen, ob sie da sei und ob es ihr gut gehe.
„Erst ignoriert man´s, legt das Handy noch auf die Seite, aber irgendwann stellt man fest: Ich muss das jetzt aussprechen. Es hilft nichts. Ich muss das jetzt zum ersten Mal sagen bzw. schreiben.“
Nachdem sie die Kolleginnen kurz über den Tod informiert hatte, bekam sie anteilnehmende Hilfsangebote von ihnen, ob man etwas für sie tun könne oder sie etwas brauche sowie eine E-Mail ihrer Vorgesetzten. Der Inhalt war in etwa folgender:
Sie solle sich bitte so bald wie möglich melden, denn sie müsse ja die Personalplanung machen. Das wäre ja eine Katastrophe und es täte ihr leid, aber sie müsse das nun wissen.
Der Hintergrund dieser (hier mag jeder ein Adjektiv seiner Wahl einfügen) E-Mail war die Sachgrundbefristung ihrer Mutterschaftsvertretung. Diese entfiel mit ihrer Totgeburt. In der Situation konnte Anna sich jedoch nicht mit der Frage nach ihrer Rückkehr an den Arbeitsplatz beschäftigen. Es ging ihr richtig dreckig und sie musste eine Beerdigung organisieren.
„Man ist nicht lebensfähig. Alles ist purer Stress. Alles war zu viel.“
Massiver Blutverlust, Schwäche, Schock und lähmende Schmerzmittel ließen Anna immer wieder wegdämmern. Ihr Mann war dabei, als die tote Johanna gewaschen, gewogen, gemessen und angekleidet wurde. Es gibt Fußabdrücke und Fotos. Der engste Familienkreis kam ins Krankenhaus. Auf dringenden Rat eines Oberarztes nahm auch sie irgendwann ihre Tochter zu sich und ließ sie eine Nacht auf ihrer Brust.
Als Johannas Körper ganz warm war, durch Annas eigene Körpertemperatur, dachte sie sogar, dass ihr Baby doch lebt.
Ein Wunsch, der den trauernden Eltern vergönnt war. Sie mussten Abschied nehmen, die Beerdigung organisieren und selber weiterleben.
Zurück in den Job?
Im Anschluss an die geplanten 3 Wochen Urlaub nach der Geburt ließ Christoph sich krankschreiben. Er war insgesamt 5 Wochen zu Hause und hat dann die Möglichkeit einer Wiedereingliederung wahrgenommen. So konnte er nachmittags seine Frau noch unterstützen.
Für Anna galt der normale Mutterschutz von 8 Wochen nach der Geburt. Wegen den Wunden ihrer OP und der Geburt wurde sie im Anschluss nochmal 3 Wochen krankgeschrieben. Aber zu Hause sitzen, hilft nicht wirklich weiter.
„Ich kam in einen Zustand, in dem ich gemerkt habe, wenn ich mich jetzt nicht aufraffe, dann bleibt das jetzt so. Alleine komme ich da jetzt nicht mehr raus. Ich brauche Alltag, ich brauche eine Herausforderung. Ich muss das jetzt tun, auch wenn ich eigentlich noch nicht bereit dazu war.“
11 Wochen nach der Geburt kehrt sie ohne Eingliederungsprogramm sofort in Vollzeit in ihren alten Job zurück. Ihre oberste Chefin hat ihr nicht wirklich andere Optionen gelassen. Ihrer Nachfolgerin wurde gekündigt. Ihre Sachgrundbefristung war schließlich entfallen.
„2 Wochen vor Weihnachten wieder zu arbeiten war hart. Aber es hat gut getan. Es war genau der richtige Weg. Ich würde es auch anderen empfehlen. So hart es klingt, aber es rettet einen irgendwo, weil es eine Konstante ist. Wenn alles andere aus dem Ruder läuft, dann hat man wenigstens das.“
Wie geht man „damit“ um bei der Arbeit?
Mit ihrer obersten Chefin hatte sie ein längeres Gespräch. Sie hat Hilfsbereitschaft verkündet, aber mehr als Worthülsen waren das nicht, das spürte Anna. Wirklich anteilnehmend und helfend reagierten ihr direkter Chef und ihre nächsten Kolleginnen und Kollegen. Ihnen hat sie auch erzählt was genau passiert ist.
Ihre Anwesenheit im Büro fiel auf, schließlich hatte sie sich gute 3 Monate zuvor im Kollegenkreis und bei ihren Mandanten auf unbestimmte Zeit in den Mutterschutz verabschiedet. So kam es auch immer wieder am Telefon zu Nachfragen von Geschäftskontakten.
„Ich habe zwei-/dreimal einfach auf Hold gedrückt, hab´s einer Kollegin gegeben und bin in die Küche zum Heulen.“
Andere Kollegen, mit denen kein näherer Kontakt bestand, haben sich ihr gegenüber nicht zu ihrer unerwarteten Rückkehr geäußert. Das war für Anna auch stimmig. Jede Thematisierung ist schließlich eine erneute Konfrontation mit der Situation. Ihre Kollegen, zu denen ein sehr gutes Verhältnis bestand, haben sie öfter aufgefangen, z. B. in Situationen wie oben beschrieben. Aber manchmal überkamen die Gefühle sie auch einfach so.
„Manchmal erstarrt man vor dem PC und es schießen einem die Tränen ins Gesicht und man weiß nicht mal warum denn jetzt gerade.“
Manche Menschen überraschten Anna auch einfach. Ihr direkter Vorgesetzter bot ihr in Situationen, in denen sie wieder nur Heulen konnte, sogar an, sie nach Hause zu fahren. Sehr menschlich und mitfühlend zeigte sich auch eine Kollegin mit Haaren auf den Zähnen, die bewusst kinderlos ist. Sie bot, wenn auch auf etwas unbeholfene Art und Weise, ihre Hilfe an, was Anna sehr gut getan hat.
Umgang mit der Frage: „Wie geht’s dem Baby?“
Die Kollegen wussten ja, dass ihr Baby gestorben war, aber all die Mandanten, mit denen sie täglich zu tun hatte, wunderten sich nun, dass sie schon wieder arbeitete. Natürlich erkundigten sie sich fröhlich nach dem Baby.
„Es war mir am Anfang echt zu viel. Ich wusste selber nicht, wie ich damit umgehen soll, geschweige denn, wie andere damit umgehen sollen. Sie wollen einen beglückwünschen, sie freuen sich mit einem und dann sagt man: Du, unser Baby ist tot.“
Es hat lange gedauert, bis sie wusste, wie sie mit anderen damit umgeht, denn: Wenn jemand fragte, wie es dem Baby gehe und sie sagte „gut“, dann kamen automatisch die nächsten Fragen nach dem Schlaf, dem Hunger und spätestens dann hatte sie keine Antworten mehr. Auch ausweichende Antworten, wie „Es ist nicht so gut gelaufen“, führten lediglich zu weiteren Fragen.
„Irgendwann habe ich beschlossen, ich haue es einfach raus. Wenn mich jemand nach dem Kind fragt, sage ich: Unser Kind hat es nicht geschafft. Es hat die Geburt nicht überlebt.“
Reaktionen auf die Nachricht vom Tod ihrer Tochter
Nur, „Mein Kind ist bei der Geburt gestorben“ – es ist ihr wichtig zu sagen, dass ihr Kind auf die Welt kam – so einfach sagt sich das eben auch nicht. Es ist immerhin etwas ganz Privates und es schmerzt immer wieder daran erinnert zu werden und es auszusprechen. Direktheit und Offenheit haben jedoch diesen großen Vorteil: Dann ist Ruhe. Dann muss man nichts mehr erklären. Für Anna war das irgendwann leichter. Sie hat sich so geschützt.
„Nur wenn man drum herumredet fragen die Leute nach.“
„Und wie wurde reagiert, wenn Du sagtest, sie ist tot?“, fragte ich Anna. „Niemand weiß so recht, was er sagen soll“, antwortet sie.
„Ich kann die anderen nicht beschützen vor dieser Reaktion, weil ich selber nicht damit umgehen kann. Für mich war es selber zu viel, wie sollte/konnte ich da noch andere schützen. Das ging einfach nicht“.
Ein dreiviertel Jahr nach der Geburt war eine Firmenveranstaltung mit 400 Leuten. Ein gestandener Geschäftsmann, 500 Leute unter sich, kam zu ihr und begrüßte sie fröhlich, wie schön es sei, dass sie trotz Elternzeit da sei … und fragte: „Wie geht’s denn dem Nachwuchs.“ Eine Kollegin stand hinter ihr und bereitete sich innerlich darauf vor, dass sie jetzt gleich eingreifen, helfen, auffangen, was auch immer müsse.
Doch Anna blieb stark: „Es ist sehr lieb, dass Sie fragen, aber unser Kind ist gestorben bei der Geburt.“ – Der Mann war fix und fertig und konnte gar nichts mehr sagen, so Anna.
Mitleid tut weh
Anna empfindet es als anmaßend, wenn man meint zu wissen, wie es ihr geht. Eine der schlimmsten Reaktionen war für sie somit auch: „Ich weiß genau wie es Dir geht, denn meine Oma ist letztes Jahr gestorben.“ Weitere Reaktionen, die sie getroffen haben, waren z. B. „Ja mei, bist ja noch jung, kannst ja noch eins kriegen.“ oder „Früher, da sind auch viele Kinder gestorben“.
Ganz schlimm ist: „Das wird schon wieder!“ denn, so Anna: „Nein, es wird nie wieder. Es ist jetzt so. Damit muss ich leben.“
Viele äußern oder zeigen ihr Mitleid, aber Mitleid hilft nicht, sondern tut weh. Anna kann nicht einschätzen, wie ehrlich es gemeint ist. Oft hat sie das Gefühl, die anderen beziehen die Totgeburt auf sich, dass ihnen so etwas auch passieren kann. Das sind dann Reaktionen, bei denen sich die Leute selber in den Vordergrund stellen.
Welche Reaktion ist denn nun richtig?
Der gewünschte Umgang ist „so normal wie möglich“. Sie wünscht sich, dass man ehrlich zu sich selber ist und sich eingesteht, dass man eben nicht weiß, wie es einer Mutter geht, die ihr Baby bei der Geburt verloren hat, wenn man das selber nicht erlebt hat.
Eigentlich ist es ganz einfach auf so eine Nachricht zu reagieren, sagt Anna: „Ich habe keine Ahnung, was du gerade durchmachst und wie es dir geht, aber ich bin für dich da.“ Diese Reaktion hätte sie sich gewünscht.
Das Leben geht weiter
Für den Trauerprozess ist es wichtig darüber zu reden, auch der Austausch mit anderen. Auf einen Psychologen haben beide verzichtet und eine Selbsthilfegruppe haben Christoph und sie nur einmal besucht. Tenor der Gruppe war die Suche nach dem Schuldigen, den man im Idealfall noch verklagen kann. Sie glaubt es macht keinen Sinn die Schuld zu suchen oder sich vor dem Alltag zu drücken.
Zur Arbeit zurück zu kehren hat ihr geholfen, denn der Alltag unterstützt. Aber hart war es. Sie und ihr Mann haben beide nicht gewusst, wie sie das hinkriegen sollen.
„Das Grausame ist: Das Leben läuft weiter. Das Arbeitsleben, das Privatleben, alles läuft weiter. Nur weil du nicht kannst, bleibt der Rest nicht stehen.“
Christoph und sie haben 8 Monate nach der Geburt geheiratet, unabhängig davon, was andere darüber dachten und sie haben ihren ursprünglichen Plan realisiert. Sie haben ein Haus gebaut. Am Geburtstag selber pflanzten sie für Johanna einen Baum. Sie ist für sie immer präsent. Verwaiste Eltern, so fühlen sie sich, denn die Gefühle für das Baby, das sie 9 Monate erwartet haben, das sie in sich gespürt hat und das sie geboren hat, die sind mit ihrem Tod eben nicht gestorben.
Christoph und Anna erwarten ihr zweites Kind
Nun, gute 1,5 Jahre später steht sie kurz vor ihrer zweiten Entbindung. Sie erwarten einen Sohn. Ihre oberste Chefin ist mittlerweile gegangen. Ihre Nachfolgerin hat sehr positiv auf ihre zweite Schwangerschaft reagiert: „Ich habe gehört von ihrem Schicksal. Ich freue mich wahnsinnig für Sie.“ Sie wird im gleichen Krankenhaus entbinden, weil sie das Erfolgserlebnis braucht.
„Einmal aus der Klinik rausgehen mit einem Baby. Das ist das letzte, was ich noch tun kann, in der Hoffnung, dass es mir ein bisschen besser geht damit.“
Die Meinungen anderer zu der Klinikwahl teilen sich. Anna und Christoph gehen unabhängig davon ihren eigenen Weg. Sie sind ein Team, das durch das Erlebte noch stärker zusammen geschweißt ist.
„Ich glaube grundsätzlich sind wir an einem Level angelangt, wo es nicht mehr besser wird. Wir stehen wieder mitten im Leben, wir haben uns irgendwie mit der Situation abgefunden. Wir reden natürlich viel über Johanna. Sie ist immer präsent.“
Während sie viel über das Erlebte spricht, geht ihr Mann anders damit um. Er redet insgesamt selten mit anderen darüber. Im Zuge ihres Umzugs wechselte Christoph seinen Job und erzählte seinen neuen Kollegen nichts von dem Erlebten.
Als er mal erzählte, dass seine Frau ein Beschäftigungsverbot hat – zu früh für den Geburtstermin – und man sich wunderte, schwieg er einfach. Ihm ist es lieber von 0 zu starten. Anna denkt dagegen:
„Es gehört zu mir, es ist so, ich kann damit besser, wenn andere wissen, woran sie bei mir sind. In der Kombi funktioniert es aber gut. Jeder trauert anders.“
Als sie schwanger wurde, wollte ihr Frauenarzt sie sofort von der Arbeit befreien. Sie wollte jedoch arbeiten. Nur 4 Wochen früher als der Mutterschutz regulär begonnen hätte, hat sie aufgehört zu arbeiten. In wenigen Tagen hat sie einen geplanten Kaiserschnitt.
Danke, Anna, für Deine Offenheit und alles Gute für Euch!
Ich freue mich nun ergänzen zu können, dass Anna und Christoph vor wenigen Tagen einen Sohn bekommen haben.
Nachtrag: Ein sehr guter Freund von Anna ließ ein Lied zu Johannas Tod komponieren, in der Hoffnung ihren Schmerz lindern zu können. Als ich es bei einem Chant-Abend von der Komponistin hörte, hat es mich so berührt, dass ich darüber schreiben wollte.
Wer sich für das insgesamt 6-minütige Lied interessiert, der kann an info@naturheilpraxis-brandstetter.de schreiben.